Essay von Fabian Raith zu den MedienKunstTagen NRW 2025

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Essay von Fabian Raith zu den MedienKunstTagen NRW 2025

Usually everyone wants it, they just dont want the extra work

DiskursEssay

Im späten achtzehnten Jahrhundert wandelte sich die amerikanische Stadt Worchester Country zum größten Drahthersteller der USA. Das gelang, in dem der Besitzer seinen Angestellten Alkoholkonsum während der Arbeit verbot. Die Fabrik wuchs von 30 auf 700 Angestellte, wirtschaftlich lief es hervorragend. Nur die Arbeitsfreude der Angestellte ging direkt proportional zum Alkohol in der Fabrik zurück und so erkämpften sie sich den 10 Stunden Tag. Es entstand eine stärkere Trennung zwischen Arbeit und Freizeit und die Lücke im Tagesablauf wurde von Saloons gefüllt, also Orten, die spezifisch dazu da waren, Alkohol zu trinken und Spaß zu haben. Durch Schwingtüren werden sie betreten und drinnen wartet alles, was Spaß und Ablenkung von der Arbeit verspricht. Die Idee des Fabrikbesitzers änderte also nicht nur die Zukunft seiner Fabrik, sondern die komplette Stadt und das Verhältnis von Arbeit und Freizeit.
 
Die Schwingtür der Medienkunst schwingt zwischen Gegenwart und Zukunft- so heißt zumindest auf dem Livepodcast zur Eröffnung der Medienkunsttage NRW 2025.

Auf der einen Seite der Schwingtür gibt es spekulative Ideen für alternative Zukünfte, Zukunft als Möglichkeitsraum und Gestaltungsmöglichkeiten. Oder mit dem Motto der Medienkunsttage gesprochen: More Future. Eine Lust am Herumdenken, Technologien zu entfremden und eine Idee von einem Morgen zu entwerfen, das mehr verspricht als das heute.
Insbesondere die Arbeiten der Medienkunstfellows sind von diesen Spekulationen über Zukünfte geprägt: Paula Maya Strunden erzählt von neuen Natur-Technologie Verhältnissen durch 3D Assets, Claude Jansen erzählt von digitalen und spirituellen Medien und Manuel Talarico nutzt Deep Fake Technologien, um über neue Identitäten zu spekulieren.
Wie fluide diese Identitäten werden, wie Körper und digitale Repräsentation von Körpern sich verschränken und wie sehr diese den Körper buchstäblich hin und her werfen können, wird auch in der Performance Post Corpus Shapeshifter des Performancekollektivs rendered realities – gezeigt auf der UZWEI des Dortmunder U im Rahmen der Ausstellung Solarpunk deutlich: Ein physischer Körper kämpft mit einem zunehmend raumnehmenden, digitalen Körper um Platz, Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit. Der digitale Avatar und der physisch präsente Körper treten immer mehr in einen Dialog und verändern ihre Form und Ausdrucksweise. Natur und Technologie treten auf neue Weise miteinander in Dialog.
 
Doch während rendered realities eine Konkurrenz erzählt, entsteht in den Videoarbeiten Ponor von Jana Kerima Stolze und Lex Rütten und Flint House Lizard von Ani Schulze eine neue, andere Welterzählung. Diese löst den menschlichen Blick ab und richtet den Fokus auf die natürliche Umgebung, das Zusammenspiel von Natur und Technologien und schafft so eine post-anthropozentrischen Technologieerzählung. Sie denken so durch die Gegenwart hindurch die Frage, ob es in der Natur Vorbilder für nötige Anpassung in der Klimakrise gibt und wie diese Hoffnung in die Gegenwart transportieren können.
 
Die Schwingtür ist jedoch nicht nur Übersetzerin zwischen Gegenwart und Zukunft, sie transformiert auch historische Momente in alternative Zukünfte.
Nadja Buttendorfs Projekt RoSie kehrt zurück an den Zeitpunkt vor der Abwicklung des wichtigsten Computerherstellers der DDR, Robotron, und imaginiert von einer gleichberechtigten Vereinigung von Robotron mit dem wichtigsten Computerherstellers Westdeutschlands, Siemens. Was wäre, wenn statt des Zerschlagungsansatz der Treuhand die Wünsche und Vorstellungen der Beschäftigten des Betriebs umgesetzt worden wären? Wie sähe die Gegenwart aus, wenn die Treuhand, statt funktionierende Industrie in Ostdeutschland abzuwickeln, andere Entscheidungen getroffen hätte? 
 
Auch das Szenario und die Umgebung, in denen die MedienKunstTage stattfinden, erzählt von dieser alternativen Weltsicht. Die Ausstellung Genossin Sonne des HMKV stellt die Sonne als Verbündete für alternative Zukunftsentwürfe, die sich aus der Vergangenheit speisen, vor. Exemplarisch dafür steht die wissenschaftlich-spekulative Arbeit, vor der die Panels und Gespräche der MedienKunstTage stattfinden. Basierend auf einem Text von Mikhail Gorbanev werden die Zeitpunkte von politischen Umstürzen und Revolutionen mit Sonnenaktivitäten verglichen und gezeigt, dass viele relevante Gesellschaftsumstürze in der Zeit stattfinden, in der sich auch besonders viel Sonnenaktivität ereignet. Diese Art von spekulativem Denken, vom Erhoffen alternativer Zukünfte und der Imagination einer sich von der Gegenwart unterscheidenden Zukunft zeigt sich auch in den Minifestos, welche im Workshop von Nishant Shah und Sara Morais dos Santos Bruss in der Akademie für Theater und Digitalität entstehen. Die Teilnehmer:innen werden hier zu einem Small Language Model und kehren so die Logik hinter künstlicher Intelligenz um: Statt der Erzählung zu folgen, KI könne dem Menschen immer näherkommen, werden die Teilnehmer:innen zu KI-Modellen, zu small language models. Diese small language models arbeiten nicht nach der Idee von Wahrscheinlichkeiten, sondern schöpfen aus den Wissensbeständen der Teilnehmenden.
Während des Workshops wird deutlich: Die Zukunft soll immer schon in der Gegenwart performen. Es ergibt sich ein Zukunftsparadox: In der Zukunft ist so lange alles möglich, bis etwas beweist, dass es doch nicht so ist. Doch sind diese Zukunftsvorstellungen auch ein Fenster in die Gegenwart. Zukunftsmodelle unterliegen nach wie vor Interpretationen, der Output, den wir in Prompts und Befragungen bekommen, sind Deutungen, keine Konsequenzen. Während des Workshops entstehen kleine Möglichkeiten der Hoffnung in jedem der Minifestos, oder wie dos Santos Bruss es nennt: Viele kleine Beginne.
Diese vielen kleinen Beginne lassen sich auch in den Panels zu den Commons von heute entdecken: Nachhaltige Hardware, Institutionen und Software, die sich als Alternative zu kommerziellen Anbietern etablieren könnten. Wer stellt die Software und Hardware die in öffentlichen Institutionen und privaten Endgeräten genutzt werden, eigentlich her, warum wird öffentliches Geld in kommerzielle Softwarelizenzen gesteckt und wie kann digitale Agency nicht nur als interessantes intellektuelles Konzept verhandelt, sondern auch praktisch umgesetzt werden?  
Diese Ideen sind jedoch auch eine Schwingtür in die Gegenwart, in der es schwer fällt, Konternarrative gegen „20 Jahre Metapolitik“ zu setzen, wie Laura Hille es im Panel Unerreichbare Gegenwarten, unvermeidliche Enden formulierte. Das Panel zeigt insbesondere, wie Macht, Geld und Ideologie in Zirkeln von Tech Bros gerade zusammenkommen und holt das draußen, die Welt, die vor den Schwingtüren zwischen Gegenwart und Zukunft, wartet, wieder rein: Die harte Arbeitswelt, in der Arbeitszeitverkürzung erkämpft werden muss, in der Organisationsgrad von Arbeitenden in Gewerkschaften sinkt und ideologische Deregulierung auf Kosten gemeinschaftlicher Konzepte durchgesetzt wird oder werden soll. In dieser Welt scheint es gerade keine offenen, vieldeutigen Zukunftserzählungen mehr zu geben. Stattdessen wird Zukunft bereits in der Gegenwart erzählt und scheint, anders als es in den vorherigen Workshops passierte, unabwandelbar. Die Zukunft wird fatal und der einzige Ausweg ist mehr Technologie und weniger Rumreguliererei. Man wird Zuschauer*in, wie um einen herum Zukunft gebaut wird. In diesen Momenten wünscht man sich Dietmar Daths Maschine aus seinem Buch Skyrmionen oder: A Fucking Army herbei, die das Computerzeitalter beendet. Auch das wird im von Vanina Sarracion kuratierten Filmprogramm deutlich: Die Filme wandeln zwischen Dystopien und Utopien, zwischen Nostalgie und Untergangsstimmung, zwischen teils KI-generierten Filmen und realen Dokumentationen. Elisabeth Bruns Film Big Tech Blues ist ein Beispiel für die Vielschichtigkeit im Umgang mit technologischen Zukünften und zeigt die Komplexität der digitalen Gegenwart: Ein kleines Dorf in ihrer Heimat Norwegen wehrt sich erfolgreich gegen die Umnutzung ihrer ehemaligen Dorfschule in eine Bodenstation für Space X Satelliten. Einerseits ist der Film ein Manifest der Wehrhaftigkeit von Gemeinschaften gegen globale Konzerne, die keine Verantwortung für die realen Auswirkungen ihrer Technologien vor Ort übernehmen wollen. Der Film macht deutlich, dass Widerstand sich lohnt. Andererseits stellt er auch die Frage, was passiert eigentlich, wenn Not in my backyard-Politiken auch mögliche positive Veränderungen durch Technologie in Frage stellt?
Der Film ist möglicherweise das, was Isabelle Hermann als Anti-Dystopien beschreiben würde: Keine ganz weit entfernte Zukunft, abseits der Realität, sondern das Aufzeigen von Wegen zu realistischen Alternativen. Hermann erklärt das Konzept anhand von SciFi Literatur: Statt eine utopische, der jetzigen völlig enthobenen Welt zu designen, kann SciFi auch Wege aufzeichnen, in der Menschen selbst für ihre Zukunft verantwortlich sind, Agency haben und ihre Umwelt beeinflussen können. Anti-Dystopie kann Mut zum Mitmachen machen. Vor allem macht sie deutlich, dass die Versprechungen, die mit Gadgets von Tech Giganten gerade gebaut oder versprochen werden, weniger innovativ sind, als sie uns glauben machen möchten. Die Erfindungen und Neuerungen sind nicht nur inspiriert von SciFi, sondern teils einfach Kopien davon. Dieser Entwicklung wird mit großer Begeisterung zugeschaut, doch versprechen diese Innovationen keine Lösungen, neue Denkweisen oder Weiterentwicklungen zu sozialen Problemen und des Zusammenlebens, sondern vor allem Gadgets. Die Lösung sozialer Probleme bleibt Aufgabe der Welt draußen, auf der anderen Seite der Schwingtür.
 
Ein Teil davon ist die Arbeit, die Laurence Rassel an der Ecole de recherche graphique (ERG) gemacht hat. Unter ihrer Leitung und mit viel Überzeugungsarbeit wurde die ERG  zu einer Institution des Kollektivs umgebaut. Gemeinschaft als Leitprinzip, Open Source und kollektives Lernen als Prinzipien. Viele Veränderungen im Kleinen, die nicht den großen Ruhm versprechen, aber Wirksamkeit vor Ort entfalten. Leider macht auch das ganz schön viel Arbeit, auf beiden Seiten der Schwingtüren.  
 
Sie bildet damit etwas ab, was auch die Medienkunsttage  insgesamt geprägt hat: Die Frage nach Möglichkeiten Technologie wieder mit Hoffnung zu verbinden, nach einer Erzählung von Technologie, die nicht vereinzelt, sondern verbindet und in der Technologie nicht in Versprechungen auf ein Übermorgen, sondern im Jetzt Dinge verbessert. Eine große Antwort darauf geben sie nicht, aber viele kleine. Das Bilden von kleinen Communities, das Handeln im Lokalen und das Bauen eigener, kleiner Technologien, die Dinge positiv verändern können. Dafür gibt es wenig öffentliche Aufmerksamkeit und wenig Schulterklopfer, aber dafür mehr Zukunft.

Fabian Raiths eigene Mixed Reality begann 1987 in Regensburg, Bayern. Zum Studium ging es in den Osten (Erfurt), Frankfurt (Ost) und noch Weiter Ost (Istanbul). Nach geschriebener Masterarbeit (Migrationsdiskurse im deutschen Pop) bis 2020 Studium des (damals noch neuen) Masters Spiel und Objekt an der HfS Ernst Busch. Dort im Bereich Mixed Reality (Augmented Reality) und dem Herstellen (individuell zugänglicher)dramatischer Situationen interessiert. Abschluss mit einem (Mixed Reality) Walk zu (ost)deutscher Erinnerungskultur. Schwerpunkte sind Installationen (begehbar), ortsspezifische Arbeiten und Konstellationen, die menschliche und nicht menschliche Akteure in Austausch bringen.

Mitschnitt des Gesprächs: Geert Lovink im Gespräch mit Annekathrin Kohout

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Mitschnitt des Gesprächs: Geert Lovink im Gespräch mit Annekathrin Kohout

FFT Düsseldorf – Forum Freies Theater
FR, 16. DEZEMBER 2022, 18:30 Uhr

DiskursVideo

Der Medientheoretiker und Netzkritiker Geert Lovink beobachtet seit Jahren mit wachsender Sorge die Entwicklungen in der digitalen Welt. Er warnte schon früh vor dem Plattformkapitalismus und forderte uns auf, unsere Facebook-Profile zu löschen. Seine Analysen zeigen, wie Interaktion in sozialen Medien eine spezielle Art von Traurigkeit hervorbringen kann. Trotzdem hat er den Glauben an ein besseres Netz noch nicht verloren. Gerade ist sein neues Buch „In der Plattformfalle – Plädoyer zur Rückeroberung des Internets“ (transcript, 2022) auf Deutsch erschienen. Darin fordert er uns auf, „eigene Versionen des Technosozialen“ zu entwickeln. Im Gespräch mit der Medienwissenschaftlerin Annekathrin Kohout („Nerds. Eine Popkulturgeschichte“, „Netzfeminismus. Digitale Bildkulturen“) präsentierte Geert Lovink erstmals die deutsche Übersetzung des Buches.


Zu den Gästen

Geert Lovink ist Medientheoretiker, Internetkritiker und Autor u.a. von „Dark Fiber“ (2002), „Zero Comments“ (2007), „Im Bann der Plattformen“ (2017) und „Digitaler Nihilismus. Thesen zur dunklen Seite der Plattformen“ (2019). Lovink ist Gründungsdirektor des medientheoretischen Institute of Network Cultures (INC) mit Sitz an der Hogeschool van Amsterdam, das sich seit 2004 der Kultur in virtuellen Netzwerken als soziales Phänomen widmet. Seit 2021 ist Lovink zudem Professor für Kunst und Netzwerkkulturen an der Universität Amsterdam.
Geert Lovink im Collective Chronicle of Thoughts and Observations, 2017
Mehr Infos zum Institute of Network Cultures (INC)

Annekathrin Kohout ist Medienwissenschaftlerin und Mitherausgeberin der Buchreihe „Digitale Bildkulturen“ sowie der Zeitschrift POP. Kultur und Kritik und Mitglied des Editorial Boards des internationalen Journal of Global Pop Cultures. Ihr Buch „Nerds. Eine Popkulturgeschichte“ erschien 2022 bei C.H. Beck. Als Gastdozentin unterrichtet sie derzeit am Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur an der Universität Hildesheim.
Mehr Infos zu POP. Kultur und Kritik
Mehr Infos zum Journal of Global Pop Cultures

Aufzeichnung des Gesprächs: „Was das Valley denken nennt – und wie davon erzählt wird“

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Aufzeichnung des Gesprächs: „Was das Valley denken nennt – und wie davon erzählt wird“

HMKV im Dortmunder U | Kino, EG und online
MI, 15. Juni 2022, 19 – 21 Uhr

DiskursVideo

Mit Dr. Inke Arns, Prof. Dr. Adrian Daub und Jonas Lüscher
Moderation: Dr. Iuditha Balint und Fabian Saavedra-Lara


Gemeinsam mit den Kooperationspartnern, dem Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt und dem HMKV Hartware MedienKunstVerein, lud das Büro medienwerk.nrw am 15. Juni 2022 um 19 Uhr herzlich zur Gesprächsrunde Was das Valley Denken nennt – und wie davon erzählt wird mit dem Literaturwissenschaftler und Publizisten Prof. Dr. Adrian Daub, dem Schriftsteller Jonas Lüscher sowie der Kuratorin und Direktorin des HMKV Dr. Inke Arns ein. Veranstaltungsort ist das Kino im Dortmunder U.

Anlässlich der Ausstellung des HMKV House of Mirrors: Künstliche Intelligenz als Phantasma wurden bei der Gesprächsveranstaltung im Dortmunder U einige Gedanken aus den Texten Adrian Daubs und Jonas Lüschers mit den Ideen und ausgewählten Werken aus der Ausstellung in einen Dialog gebracht. Allen drei Beteiligten ist das Anliegen gemein, sich kritisch und differenziert mit der Ideengeschichte des Silicon Valley und den Erzählungen über digitale Technologien, die von den dort residierenden Unternehmen hervorgebracht werden, auseinanderzusetzen. In der Diskussion wurden einige dieser Mythen, die aktuell zum Beispiel um das Schlagwort der „künstlichen Intelligenz“ kreisen, benannt und dekonstruiert. 

Moderiert wurde die Veranstaltung von Dr. Iuditha Balint (Fritz-Hüser-Institut) und Fabian Saavedra-Lara (Büro medienwerk.nrw).


Zu den Gästen
Der in Köln geborene Germanist und Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Adrian Daub ist Professor für vergleichende Literaturwissenschaften an der Stanford University, Kalifornien, und leitet das dortige Clayman Institute for Gender Research. Er schreibt u.a. über Themen wie früher Feminismus, kulturelles Gedächtnis und deutsche Populär- und Musikkultur des 19. Jahrhunderts. Sein Buch „Was das Valley denken nennt. Über die Ideologie der Techbranche“ (Suhrkamp, 2020) erzählt vom Silicon Valley – einer Region, die in den letzten 70 Jahren zum mächtigsten IT- und High-Tech-Standort weltweit aufgestiegen ist. In seinem Buch hinterfragt Daub, der mit Stanford seinen beruflichen Mittelpunkt in nächster Nähe zum Valley eingerichtet hat, dessen Selbstinszenierung, indem er die Rhetorik von Unternehmer*innen wie Peter Thiel oder Mark Zuckerberg untersucht und die Ideologie der Branche historisch kontextualisiert.

Jonas Lüscher ist ein schweizerisch-deutscher Schriftsteller und Essayist. Nach seinem Studium der Philosophie forschte er intensiv zur Bedeutung von Erzählungen für die Beschreibung sozialer Komplexität und hatte in diesem Kontext ein Stipendium des Schweizer Nationalfonds für einen Forschungsaufenthalt in Stanford. In seiner Novelle „Frühling der Barbaren“ (C.H. Beck, 2013) geht es um die Bedeutung von Narrationen in gesellschaftlichen Zusammenhängen – in diesem Buch kommen die Theorien Richard Rortys narrativ zum Tragen. Über die Mentalität und Rhetorik des Silicon Valley erzählt sein Roman „Kraft“ (C.H. Beck, 2017). Als sozial und politisch engagierter Essayist veröffentlicht Jonas Lüscher zu verschiedenen Themenkomplexen wie Ökonomie oder Populismus.

Dr. Inke Arns ist Direktorin des HMKV Hartware MedienKunstVerein in Dortmund. Seit 1993 freie Kuratorin und Autorin mit den Schwerpunkten Medienkunst und -theorie, Netzkulturen, Osteuropa. Nach einem Aufenthalt in Paris (1982-1986) Studium der Slawistik, Osteuropastudien, Politikwissenschaften und Kunstgeschichte in Berlin und Amsterdam (1988-1996 M.A.), 2004 Promotion an der HU Berlin. Sie kuratiert(e) viele Ausstellungen – u.a. am bauhaus dessau, MG+MSUM Ljubljana, Gallery EXIT Pejë, KW Berlin, Museum of Contemporary Art Belgrad, CCA Glasgow, CCA Ujazdowski Castle Warschau, HMKV Dortmund, HKW Berlin, Muzeum Sztuki Lodz, La Gaîté Lyrique Paris, MMOMA Moskau, BOZAR Brüssel, NCCA Jekaterinburg, exportdrvo Rijeka, a.o.. Darüber hinaus ist sie Autorin sowie Herausgeberin zahlreicher Beiträge zur Medienkunst und Netzkultur. Von 2021-2022 übernahm sie die Gastprofessur für kuratorische Praxis an der Kunstakademie Münster. 2022 war sie Kuratorin des Pavilions der Republik Kosovo (Künstler: Jakup Ferri) auf der 59. Internationalen Kunstausstellung, La Biennale di Venezia.



Eine Kooperation vom Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt, dem HMKV Hartware MedienKunstVerein und dem Büro medienwerk.nrw.

Das Veranstaltungsprogramm wurde gefördert durch NEUSTART KULTUR und Stiftung Kunstfonds.

Fotos: Adrian Daub: © Cynthia Newberry | Jonas Lüscher: © Ulrike Arnold/Jonas Lüscher | Inke Arns: © Frank Vinken

ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT IV – WAS LIEGT JENSEITS VON BIG TECH

Essay Zurück in die Zukunft

ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT IV – WAS LIEGT JENSEITS VON BIG TECH

DiskursEssay

Was liegt jenseits von Big Tech?
In den frühen 1970er Jahren entstand in Chile zur Zeit Salvador Allendes eines der ersten Computernetzwerke überhaupt: Fabriken und Lagerbestände wurden mit einem System von Fernschreibern ausgestattet, die miteinander verbunden waren und ihre Daten an einen Computer in Santiago übermittelten. So sollte die Effizienz der zentral gesteuerten Wirtschaft in einer Zeit, in der es aufgrund von politischen Spannungen einen Mangel an alltäglichen Waren gab, gesteigert werden. Eine Gruppe junger, idealistischer Forscher*innen unter der Leitung des Ingenieurs Fernando Flores entwickelte dieses Projekt. Als Berater und Experte für Netzwerke wurde der britische Kybernetiker Stafford Beer an Bord geholt. Der geplante zentrale Steuerungsraum des Netzwerks in Santiago, in dem die Daten aus den Fabriken ausgespielt und durch Filmprojektoren grafisch dargestellt werden sollten, wurde vom Gestalter Gui Bonsiepe konzipiert. In seinem futuristischen Design spiegeln sich die Techno-Utopien und der Fortschrittsoptimismus der Zeit wider: Betrachtet man heute die Entwürfe, fühlt man sich unweigerlich an die Star Trek-Serie oder Stanley Kubricks Science-Fiction-Klassiker 2001: Odyssee im Weltraum erinnert.

Doch warum dieser Exkurs ins tiefe 20. Jahrhundert, wenn es um heutige digitale Transformationen geht?
Durch meine Familiengeschichte habe ich zugegebenermaßen ein besonderes, persönliches Interesse am kulturellen und auch technischen Aufbruch in dieser Zeit, der für einen kurzen historischen Moment andere Perspektiven eröffnete als diejenigen, die sich im digitalen Kapitalismus unserer Gegenwart manifestieren. Doch auch über die individuelle Biografie hinaus stehen Cybersyn und viele andere Projekte für mich sinnbildlich für die vergessenen oder unsichtbar gemachten Geschichten im Kontext der Digitalisierung.

Die Geschichtlichkeit digitaler Medien
In der öffentlichen Debatte ist die Tendenz erkennbar, technische Entwicklungen als disruptive Phänomene in einer scheinbar geschichtslosen Gegenwart zu verstehen und sie mithilfe von Innovationsrhetoriken in eine lineare, unvermeidbare Zukunft hinein zu projizieren.

»Die digitalen Medien jedoch, die für uns heute so selbstverständlich geworden sind, haben eine Geschichte, die unmittelbar verwoben ist mit politischen und ökonomischen Entwicklungen und Entscheidungen.«

Sie lassen sich nicht isoliert davon betrachten. Und somit stellen sie auch nur eine von vielen Möglichkeiten dar, was Technologie sein kann. Ein Beispiel: Forscher*innen, Künstler*innen und Aktivist*innen haben schon seit geraumer Zeit offen gelegt, auf welchen, teils biologistischen Annahmen die Algorithmen der so wirkmächtigen sozialen Netzwerke basieren, über die ein Großteil der sozialen Kommunikation unserer Gegenwart läuft. Die Grundthese besagt, dass die Vernetzung nach dem Muster von Ähnlichkeit funktionieren soll – seien dies nun Klasse, Hobbies, Interessen, Positionierung im politischen Spektrum oder der Beruf. Doch welches Gesellschaftsverständnis liegt dem zugrunde? Ließe sich nicht auch ein anderes, weniger Homogenität suchendes und in sich geschlossenes Ordnungsprinzip dieser Plattformen denken? Wäre dies nicht auch ein möglicher Weg, um die Abkopplung der gesellschaftlichen Milieus voneinander zu verhindern? Anhand dieses recht simplen Beispiels lässt sich gut nachvollziehen, dass die gegenwärtigen Technologien immer auch politisch sind und einen Teil der Ideologie, die sie hervorgebracht hat, mittransportieren. Verändert man nur ein Element in der Gleichung, ist man manchmal schon in einer anderen Realität – mit sehr manifesten Konsequenzen und Möglichkeiten.

Die frühen Netz-Avantgarden propagierten einen selbstbestimmten Umgang mit Technologie, der sich nicht mit den Voreinstellungen der damals gängigen Software und Hardware begnügte.

»Ähnlich der Umnutzung von Plattenspielern als Musikinstrumente und künstlerische Werkzeuge, zum Beispiel im Hip-Hop, ging es der kritischen Medienkultur stets darum, Technologie »gegen den Strich zu bürsten«, sie nach den eigenen Regeln umzufunktionieren und zu verändern, um auf diese Weise Potentiale freizulegen, die nicht nur einer kommerziellen Verwertbarkeit nützlich sind.«

Stets ging es darum, Grenzen auszutesten – manchmal auch die Grenzen der Legalität. Doch durch diesen Aktivismus konnten viele politische und technische Fragen und Probleme im Zusammenhang mit Technologie offengelegt werden, beispielsweise Fragen zu Datensouveränität und -missbrauch, Privatsphäre und Anonymität, Sicherheitslücken und viele weitere.

Die alten Ideale dieser Avantgarde wie der dezentrale Wissensaustausch, der freie Zugang zu Technologie, die Überwindung alter Diskriminierungsmuster im Netz, die Unabhängigkeit von wenigen, dominierenden Konzernen, die Fähigkeit Code zu lesen und ihn zu bearbeiten, sind heute wichtiger denn je, auch wenn sich in den Filterblasen und Echokammern der Fake News und Hate Speech heute das Gegenteil dieser Ideale zu manifestieren scheint. Critical Engineering und vergleichbare Praxen stammen aus einer Zeit, in der die Kommerzialisierung der digitalen Sphäre noch nicht völlig abgeschlossen war. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, sich an sie zu erinnern, sie auch im Kontext von Kunst und Kultur neu zu lesen und zu fragen, was sie heute bedeuten könnten.

Eine solche Diskussion lässt sich nicht bloß als nachträgliche künstlerisch-kulturelle Aufarbeitung oder Illustration von »cutting edge« technologischen Innovationen betreiben, sondern sie sollte – insbesondere vor dem Hintergrund der fortschreitenden Zerstörung unserer Lebensgrundlagen durch die Idee von grenzenlosem Wachstum – die Frage stellen, welcher Fortschritt für die globale Gesellschaft eigentlich wünschenswert ist. Sie sollte die durch »Convenience« und wolkige Wordings vernebelten neuen Ausbeutungsverhältnisse zum Beispiel in der Logistik und Rohstoffindustrie oder der Fertigung von Hardware sichtbar machen, die eine sehr materielle Grundlage dessen darstellen, was wir heute unter »Digitalisierung« verstehen. Sie sollte die Frage aufwerfen, welche neuen Begriffe von Arbeit, Sinnstiftung und Anerkennung wir brauchen, wenn sich das Versprechen auf Vollbeschäftigung durch die fortschreitende Automatisierung nicht mehr einlösen lässt. Und welche Logiken und Annahmen hinter den Diskriminierungsmustern und Machtverhältnissen stecken, die sich in den Algorithmen heutiger sozialer Medien und Plattformen manifestieren.

Rassismuskritischer Aktivismus hat in den letzten Jahren sichtbar gemacht, welche Körper in den digitalen Plattformen als Norm gelten und welche nicht. Der Grund liegt in der nach wie vor weitgehend homogenen Struktur der Gruppe der Autor*innen dieser Plattformen und Programme. Nicht zuletzt sollte es – neben vielen anderen Fragen – auch um das Verhältnis von privater und öffentlicher Hand im Zusammenhang mit der kritischen digitalen Infrastruktur gehen. Soll die Gestaltung der öffentlichen Räume im Digitalen und in den Smart Cities der Zukunft gänzlich wenigen Unternehmen mit vornehmlich kommerziellem Interesse überlassen werden? Die aktuelle Pandemie hat unter anderem auch gezeigt, welche Brüche es beim Zugang zu Technologie entlang der Linien von Klasse, Herkunft, Einkommen und weiteren Determinanten gibt – können wir uns damit begnügen, dass dies nicht zu ändern ist?

Jenseits von Big Tech
Eines der wesentlichen Anliegen der Arbeit im medienwerk.nrw, einem Netzwerk von Institutionen und freien Akteur*innen in Nordrhein-Westfalen, die sich mit Medienkunst und digitaler Kultur beschäftigen, besteht in der Pluralisierung der Erzählungen über Technologie. In individuellen und kooperativen Projekten gehen viele der beteiligten Partner*innen unter anderem der Frage nach, welche Technoimaginationen jenseits der libertär-kapitalistischen Erzählungen und Gründungsmythen von »Big Tech« liegen (vereinfacht gesagt, die Idee, dass in freien Märkten und Unternehmen allein die besten Ideen für gesellschaftlichen Fortschritt entstehen, der Staat sich am besten heraushalten sollte und Technologie in der Lage ist, so gut wie alle gesellschaftlichen Probleme zu lösen, wenn man sie nur machen lässt). Und nach welchen anderen Prämissen – jenseits von kommerziellen Interessen und Expansion – Technologien gestaltet werden können. Cybersyn, revisited, aber eben auch als Auseinandersetzung mit Medienkulturen in vielen weiteren Gegenden der Welt, die oftmals übersehen oder nicht ernst genommen werden.

Dies alles sind gesamtgesellschaftliche Fragen, die sich natürlich nicht allein im Kulturbereich diskutieren lassen. Eine gute Nachricht dabei ist, dass viel Wissen darüber bereits existiert und Kulturpolitik mit ihren Mitteln dabei helfen kann, es mit anderen Gesellschaftsbereichen zu verknüpfen und zu übersetzen. Natürlich braucht es einen angemessenen technischen Standard, um Institutionen und Bildungseinrichtungen zukunftsfähig zu machen. Hier ist selbstverständlich noch einiges nachzuholen. Eine offene, debatten- und experimentierfreundliche Kulturpolitik im Bereich des Digitalen hätte aber eben nicht nur mit der Anschaffung neuester (bald veralteter) Technik zu tun, sondern mit der Entwicklung neuer Schnittstellen für dieses Wissen, der Ermöglichung neuer Allianzen mit dem Ziel von Selbstermächtigung und Emanzipation im Kontext von Technologie und einer langfristigen und vielstimmigen Auseinandersetzung.

In vielen Kunst- und Kulturbereichen sind bereits seit Jahren und Jahrzehnten wesentliche Anliegen zur Stärkung der kulturellen Landschaft in der Region formuliert worden, die mit Möglichkeiten zu tun haben, längerfristig an Themen und Fragestellungen arbeiten zu können und somit Produktionsdruck herauszunehmen. Die Basis hierfür wäre wohl eine Kultur des Vertrauens in die Kulturproduzent*innen, die sich in einer größeren Zugänglichkeit zu strukturellen Förderungen und in einer Reduzierung des Verwaltungsaufwands bei Förderungen auf Seiten von Akteur*innen und Fördergeber*innen niederschlagen müsste. Auch die Stärkung von diverser Repräsentanz in Jurys, Gremien, Institutionen, Verwaltung und Positionen mit Entscheidungsmacht ist eine Forderung, die unbedingt unterstützenswert ist, um Künste und Kultur zu fördern, die in einem stetigen Stoffwechsel mit der vielfältigen gesellschaftlichen Realität stehen.

Wenn ich diesen bereits seit Längerem existierenden Ideen etwas aus Sicht von Medienkunst und digitaler Kultur hinzufügen dürfte, wäre es, die Debatte über Technologie nicht auf die bloße Anwendung von Technik zu verengen, sondern sie als lebendige soziale und politische Diskussion zu verstehen, die alle etwas angeht und auch für alle zugänglich sein sollte. Technologie ist zu einem Teil der Natur geworden, die uns umgibt und längst schon auch unsere Körper und unser Bewusstsein durchdringt. Wir sollten versuchen, diese Prozesse zu verstehen und zu gestalten – nicht nur nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Sehr viele der aktuell drängenden Fragestellungen lassen sich als technologische Fragestellungen diskutieren. Eine Öffnung der Debatte und eine Verknüpfung zum Beispiel mit den aktuellen sozialen und ökologischen Bewegungen wird uns dabei helfen, uns im Dickicht der Gegenwart zu orientieren und unsere Vorstellungskraft für das, was möglich ist, zu trainieren.


Fabian Saavedra-Lara ist ein deutsch-chilenischer Kurator im Kontext Medienkunst und digitale Kultur. Er leitet seit 2013 das Büro medienwerk.nrw. Der Essay „Zurück in die Zukunft“ ist im März 2021 für die Kulturpolitische Gesellschaft e.V. im Blog #neueRelevanz entstanden.
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